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Die Vorenthaltung von Informationen über Absetz- und Entzugsprobleme und von Hilfen beim Reduzieren als menschenrechtliches Problem
Online-Konferenz vom Freitag, den 02. Dezember 2022, von 13.00 Uhr bis 18.00 Uhr
Menschen mit psychiatrischen Diagnosen werden in aller Regel nicht wie rechtlich vorgeschrieben umfassend über unerwünschte Wirkungen von Antidepressiva und Neuroleptika aufgeklärt. Insbesondere werden sie nicht über mögliche, beim späteren Reduzieren und Absetzen der Psychopharmaka auftretende Absetz- und Entzugserscheinungen und Wege zum risikovermindernden Reduzieren und Absetzen aufgeklärt. Oft kennen Ärztinnen und Ärzte nicht den Unterschied zwischen Entzugsproblemen und sogenanntem echten Rückfall. Dies führt dazu, dass hunderttausendfach Psychopharmaka wieder angesetzt und weiterverschrieben werden, was zu Toleranzbildung, Wirkungsverlust, Tachyphylaxie, Behandlungsresistenz und Supersensitivitätsproblemen führt und neue Absetzversuche immer schwieriger macht.
Die Dauertherapie mit Psychopharmaka stellt heute die klinische Praxis dar. Sie basiert auf der Vorstellung, dass psychischen Erkrankungen eine molekulare Dysfunktion zugrunde liegt, die langfristig nur durch eine Dauertherapie befriedigend behandelt werden kann. Ein Absetzen der Medikation wird dann zwangsläufig zum Rückfall führen. Diese Haltung wird dem Wunsch vieler Betroffener nach einem Absetzen ihrer Pharmakotherapie im Verlauf ihrer Erkrankung nicht gerecht. In diesem Übersichtsreferat werden Für und Wider einer Dauertherapie mit Psychopharmaka diskutiert. Was spricht für, was dagegen, ein Psychopharmakon (sehr) langfristig einzunehmen? Wann kann eine Dosisreduktion, wann ein Absetzen erwogen werden? Wenn man sich dazu entschlossen hat, wie sollte man den Absetzprozess gestalten? Und schließlich: Warum müssen sich Psychiaterinnen und Psychiater zukünftig stärker mit dem Thema auseinandersetzen? |
Während über formelle Zwangsmaßnahmen in der psychiatrischen Versorgung, etwa Unterbringung oder freiheitsentziehende Zwangsmaßnahmen wie Fixierung, medikamentöse Sedierung oder Isolation, viel diskutiert wird, wird vergleichsweise selten über informellen Zwang gesprochen. Informeller Zwang liegt immer dann vor, wenn die Zustimmung zu einer Behandlung oder Maßnahme durch Druck erwirkt wird, beispielsweise weil die betroffene Person nicht die Unterstützung erhält, die sie für eine Entscheidungsfindung benötigt, oder auch, wenn falsche, unvollständige oder nicht verständliche Informationen bereitgestellt werden. Aus menschenrechtlicher Perspektive ist es erforderlich, dass bei jeder medizinischen Behandlung eine freie und informierte Einwilligung der betroffenen Person vorliegt. Wenn sie nicht erteilt wurde, dann stellt dies einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, in das Recht auf das höchste erreichbare Maß an Gesundheit und in das Recht auf Selbstbestimmung dar. Oder wenn die Unterstützung beim Absetzen nicht den Anforderungen genügt. |
Die Einstellungen von verschreibenden Ärzt*innen sind ein wichtiger Faktor dafür, ob eine Reduktion oder das Absetzens von Psychopharmaka möglich ist oder gelingt. Nicht selten werden die Wünsche von Betroffenen von Ärzt*innen mit Hilfe unterschiedlicher Begründungslogiken zurückgewiesen. Im Vortrag soll ein Teil dieser Logiken aufgegriffen und kritisch diskutiert werden. Grundlage dafür sind Daten aus einem Promotionsprojekt, das eine standardisierte Befragung dazu nutzte, die Einstellungen von verschreibenden Ärzt*innen in Berlin und Brandenburg zu untersuchen. |
Im Kontext von Psychopharmakagaben treten in den Kliniken und Praxen immer wieder Situationen im Sinne des informellen Zwangs auf. So können die Einnahme bzw. eine Dosiserhöhung verbunden sein mit Vorenthalten von Informationen über mögliche später auftretende Absetz- und Entzugsprobleme, mit Vergünstigungen im Stationsalltag oder dem Unterlassen der Einleitung möglicher juristischer Schritte zur Beantragung einer Zwangsbehandlung. Diese „Alltagspraxis“ muss für alle, die Betroffenen und ihre Angehörigen, aber vor allem für die Behandler in ihrer ethischen und menschenrechtlichen Fragwürdigkeit deutlich werden; es ergibt sich daraus ein klarer Aufklärungs- und Ausbildungsbedarf. Unabhängig von jeglichen anderen Sachverhalten wie z.B. der Unterbringungssituation muss über das Für und Wider von allen Behandlungsmaßnahmen offen gesprochen werden. Das betrifft auch die Psychotherapie und weitere Maßnahmen. Dabei ist ein herrschafts- und angstfreier Austausch über Alternativen, Aufdosierung und Reduzierung bzw. Absetzen von Psychopharmaka in ihren Wirkungen und Risiken nötig. Nur so kann eine selbstbestimmte Entscheidung der Betroffenen im Sinne der UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderungen zustande kommen und von allen auch „ohne Bauchschmerzen“ akzeptiert werden. |
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